
Die Jumaner Heider und Laila haben am 4. September, im Vorfeld der DiverCity Kampagne, den Mitarbeiter der Abteilung Integrationspolitik der Stadt Stuttgart, Dr. Levent Günes, zum Thema Vielfalt in Stuttgart interviewt. Hier ein Ausschnitt der interessantesten Antworten.
JUMA: Was macht für Sie persönlich eine vielfältige Gesellschaft aus?
GÜNES: Für mich ist eine vielfältige Gesellschaft ein Abbild dessen, was wir tagtäglich an Vielfalt in unserem Alltag antreffen. Stuttgart beheimatet Menschen aus 170 Nationen mit über 120 Sprachen. Diese Vielfalt braucht Gemeinsamkeiten, die sie zusammenhält. Ich sehe besonders die gemeinsame deutsche Sprache und den Willen, sich auf Augenhöhe zu begegnen, als bindendes Element.
JUMA: Weicht Ihre persönliche Vorstellung von der der Stadt Stuttgart ab?
GÜNES: Nein, meine persönliche Vorstellung weicht nicht von der Einstellung der Stadt Stuttgart ab. Die Vertreter der Stadt und ihre Bürgermeister betonen immer wieder, dass jeder, der in dieser Stadt lebt, ein Stuttgarter oder eine Stuttgarterin ist. Dieses Prinzip leitet uns in unseren Handlungen.
„… betonen , dass jeder, der in dieser Stadt lebt, ein Stuttgarter oder eine Stuttgarterin ist. Dieses Prinzip leitet uns in unseren Handlungen.“
Bei einem Anteil von 44% der Stadtbevölkerung, die einen Migrationshintergrund mitbringt, ist ein kultursensibler Umgang seitens der Stadt selbstverständlich
JUMA: Wie geht die Stadtverwaltung auf die besonderen Bedürfnisse, die eine vielfältige Gesellschaft mit sich bringt, um (z.B. barrierefreie Zugänge, Übersetzungshilfen, kultursensible Kompetenz der Mitarbeiter).
GÜNES: Um die Bedürfnisse einer vielfältigen Gesellschaft kümmern sich unterschiedliche Verantwortungsbereiche der Stadt. Bei barrierefreien Zugängen sind es beispielsweise unsere Stadtplaner. Übersetzungshilfen werden in Form eines städtischen Dolmetscherdienstes angeboten, der von jeder Behörde angefordert werden kann und dem Kunden vor Ort hilft. Bei einem Anteil von 44% der Stadtbevölkerung, die einen Migrationshintergrund mitbringt, ist ein kultursensibler Umgang seitens der Stadt selbstverständlich. Kultursensible Dienstleistung bedeutet für uns auch, dass wir unsere Verwaltung interkulturell öffnen und darauf achten, mehr Mitarbeiter mit Migrationshintergrund einzustellen. Dabei geht es nicht allein darum, dass unsere Mitarbeiter zwei Sprachen sprechen können, sondern ihr interkulturelles Wissen, aufgrund ihrer Erfahrung einbringen und entsprechend kultursensibel reagieren können.
Dazu hat die Stadt vor einigen Jahren eine Kampagne durchgeführt, um mehr Jugendliche für eine Ausbildung in der Verwaltung zu interessieren. Vor dieser Kampagne lag der Anteil der Auszubildenden mit Migrationshintergrund bei 12-15%. Aktuell liegt er bei knapp 38-39%. In den mittleren und leitenden Positionen haben wir noch Nachholbedarf.
JUMA: Haben Sie persönlich negative Erfahrungen gesammelt? Vorhin haben Sie angesprochen, dass in den leitenden Positionen wenige Menschen mit Migrationshintergrund sind.
GÜNES: Die Bewerbung für einen Anstellung in leitenden Positionen ist immer schwierig. Die Anzahl an Bewerbern ist sehr hoch und in erster Linie geht es beim Auswahlprozess um die Qualifikationen. Nichtsdestotrotz zeigen die Bertelsmann-Studien, dass der Familienname teilweise von Nachteil sein kann, wenn man einen Migrationshintergrund hat.
JUMA: Was können Sie unseren Jugendlichen mit auf den Weg geben, die sich für solche Positionen interessieren?
GÜNES: Wichtig ist meines Erachtens, sich frühzeitig zu orientieren und mit einem Praktikum Erfahrungen zu sammeln. Durchsetzungsvermögen ist genauso wichtig, wie Flexibilität. Ich glaube, dass in der fortschreitenden Globalisierung und Internationalisierung der Gesellschaft, der Migrationshintergrund als ablehnendes Kriterium langfristig verschwinden wird.
JUMA: Wie definieren Sie die Begriffe Integration & Inklusion? Welches Konzept hat bei Ihnen Priorität? Welche Maßnahmen bewerten Sie bei der Zielerreichung als besonders erfolgreich?
GÜNES: Wir versuchen die Bezeichnungen Integration und Inklusion so wenig wie möglich zu verwenden. Beide Begriffe betonen zu sehr die Vorstellung von „wir“ und „die anderen“. Wir nennen es stattdessen Teilhabechancen. Wenn wir von Teilhabechancen sprechen, sind nicht nur die Yildirms und die Papadopoulos gemeint, sondern auch Müller und Meier. Die PISA Studie zeigte, dass es Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Schule schwer haben, weil diese oft nach sozialem Status trennt. Übersehen wird, dass davon auch deutsche Schüler und Schülerinnen betroffen sind. Wir müssen die Teilhabechancen nicht nur für Personen mit Migrationshintergrund definieren, sondern für die ganze Gesellschaft.
JUMA: In Ihren offiziellen Statistiken sprechen Sie von Ausländern. Wo sehen Sie den definitorischen Unterschied zwischen diesem Begriff und Alternativen wie „Menschen mit Migrationshintergrund/ mit Zuwanderungsgeschichte“. Denken Sie, dass die Bezeichnung „Ausländer“ noch zeitgemäß ist?
GÜNES: Das ist eine sehr interessante Frage. Der Begriff „Ausländer“ ist ein rein juristischer Begriff. Er bezeichnet eine Person, die keine deutsche Staatsbürgerschaft hat. Personen, deren Eltern eingewandert, aber selbst hier geboren und aufgewachsen sind und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, haben einen Migrationshintergrund. In juristischen Unterlagen sind wir angehalten, den Begriff „Ausländer“ zu verwenden. In unserer täglichen Arbeit, bevorzugen wir die Bezeichnung „mit Migrationshintergrund“.
JUMA: Gibt es neue Ansätze in der Stadtpolitik für das vielfältige Miteinander? Welche Ziele möchten Sie damit erreichen und gibt es erste Zwischenergebnisse?
GÜNES: Ein neuer Ansatz ist die Integrationsarbeit in den Stadtquartieren. Wir nennen sie auch Begegnungsstätten bzw. Bürgerhäuser. Teilhabe fängt für uns in erster Linie mit der Begegnung an.
JUMA: Wurde es schon etabliert?
GÜNES: Der Ansatz wird bisher in zwei Bürgerhäusern umgesetzt. Auf der Makroebene können wir sehr viel über brisante Themen sprechen. Wenn wir die Themen mit Workshops und kompetenten Referenten jedoch nah an die Menschen heranbringen können, und diese Personen aus dem Stadtquartier kommen, aus dem auch die Betroffenen stammen, dann finden Begegnungen und ein direkter Austausch statt.
Integration und Inklusion … [b]eide Begriffe betonen zu sehr die Vorstellung von „wir“ und „die anderen“. Wir nennen es stattdessen Teilhabechancen.
JUMA: Wie würden Sie Ihren Kontakt zu folgenden Bevölkerungsgruppen bewerten: zu Muslimen, zu Jugendlichen, zu Migranten, zu geistig behinderten Mitbürgern, zu bildungsfernen Familien, zu politisch Aktiven, zu Homosexuellen, zu Transgender, zu Umweltaktivisten, zu Tierschützern, zu Veganern, zu Senioren, zu Menschen mit dunkler Hautfarbe, zu Gehörlosen…
GÜNES: Meine Kollegen und ich sind in beinahe alle genannten Themengebiete involviert. Sie sensibilisieren z.B. für das Thema der Behinderung. Dabei sind eine wichtige Zielgruppe Familien mit Migrationshintergrund, die selbst behinderte Kinder haben. Ich selbst bin bei den Heimat Wochen und den Internationalen Wochen gegen Rassismus aktiv und betreue auch den Arbeitskreis „Stuttgarter Muslime“. Darüber hinaus haben wir zahlreiche Projekte zum komplexen Themenbereich Bildung, Mentoring und Empowerment.
Wenn man zeigen möchte, dass der Islam in Stuttgart verwurzelt ist, dann sollte man die Vielfalt und die verschiedenen Facetten des Islams und der Muslime betonen und sich nicht verstecken.
JUMA: Wenn Sie muslimische Jugendliche betreuen, was ist Ihr Tipp? Was können muslimische Jugendliche tun?
GÜNES: Meine Empfehlung für muslimische Jugendliche ist es, aktiv zu werden. Wenn Religion für sie wichtig ist, dann gibt es die Möglichkeit, sich in einer muslimischen Jugendorganisation zu engagieren oder bei JUMA aktiv zu werden. Wenn man zeigen möchte, dass der Islam in Stuttgart verwurzelt ist, dann sollte man die Vielfalt und die verschiedenen Facetten des Islams und der Muslime betonen und sich nicht verstecken.
JUMA: Welches ist Ihr Lieblingsprojekt von JUMA?
GÜNES: Ich kenne nicht alle Projekte von JUMA. Aber das DiverCity Projekt, das am 15. September auf dem Marktplatz stattfinden wird, gefällt mir besonders gut. Es ist ein Angebot, an dem jeder mitgestalten kann. Ich freue mich darauf, an dem Tag vorbeizukommen und das Stadt-Mosaik in seiner künstlerischen und kreativen Darstellung zu sehen.
Die Jumaner danken Herrn Dr. Günes für das lange Interview und freuen sich darauf, ihn am 15. September auf dem Marktplatz begrüßen zu dürfen.
