Der Kinosaal ist voll. Der Abspann des Films „Almanya“ läuft. Man hört den Soundtrack – christliche Weihnachtslieder mit türkisch-klingendem Akzent. Die Besucher applaudieren. Ich verweile auf meinem flauschigen Kinositz und wische mir meine Tränen weg. Ich muss das Gesehene erst einmal sacken lassen. Gelacht habe ich, geweint auch. Und jetzt bin ich emotional ganz schön aufgewühlt. Sicher bin ich mir aber in einem: Der Film hat echt gut getan.

Endlich einmal durfte ich einen Film genießen, in dem die Geschichte türkischer Migranten ohne Ehrenmorde, Zwangsverheiratung und Frauenunterdrückung erzählt wurde. Es war eine Geschichte über eine ganz normale Familie mit Höhen und Tiefen, Glücksmomenten und Problemen, wie Geschwisterkonkurrenz, ungeplante Schwangerschaft und Arbeitslosigkeit. Sie muss auch wie jede andere Familie die Hürden des Alltags bewältigen.
Auf dem Weg zum Ausgang denke ich als erstes: Ich muss unbedingt meinen Opa anrufen! Denn der Film hat mir vergegenwärtigt, dass ich nur wenig darüber weiß, wie mein Großvater damals fühlte, als er nach Deutschland kam. Ich fragte mich, wie es für meinen Opa war, als er damals aus seinem Dorf in der Türkei als Gastarbeiter im fremden Deutschland ankam. Was fühlte und dachte er? Hatte er Heimweh? War er traurig? Wie hat er wohl sein erstes Brot im Tante-Emma Laden gekauft? Wusste er, dass er nicht nur einige Arbeitsjahre, sondern einen ganz neuen Lebensabschnitt in Almanya beginnt? All diese Fragen hatte ich ihm bisher nicht gestellt. Wieso eigentlich nicht?
Der Film hat mir gezeigt, was mein Opa geleistet hat. Wie mutig er war. Die Szene im Film zum Beispiel, in der die Mutter im Laden ein Stück Brot kaufen möchte und dafür mit Händen und Füßen versucht dieses Brot darzustellen. Ihr fehlen die deutschen Worte dazu. Das macht einen nachdenklich. Auch mein Opa konnte damals kein Wort Deutsch, aber essen musste er ja auch. Irgendwie. Der Film zeigt auf eine natürliche, teilweise witzige Art und Weise, aber ohne in Klischees zu verfallen, mit welchen Alltagsherausforderungen die erste türkische Gastarbeitergeneration konfrontiert war. Trotz der fehlenden Integrationskurse, die in der aktuellen Integrationsdebatte als Allheilmittel propagiert werden, haben sie sich aus eigener Kraft ein Leben hier aufgebaut. Dafür mussten sie ihre Familien, Freunde und ihre Heimat zurücklassen. Ihr „neues“ Leben hieß für sie die Souveränität, ihr Leben zu gestalten neu zu erlangen. Denn wenn man die Sprache nicht kann, ist man auch immer abhängig.
Aber diese und ähnliche Problematiken werden nicht thematisiert, wenn die Politik, die Medien, der Stammtisch über meinen Opa sprechen und herziehen. Heutzutage stellen die Menschen, wie mein Opa nur gesichtslose Zahlen und Arbeitsstatistiken dar. Man vergisst, dass hinter den Migrantenströmen, den überfüllten Zügen, die in den 60er Jahren in München ankamen, um der deutschen Wirtschaft zu helfen, sich individuelle Biografien und Geschichten verbergen. Würde man auch aus dieser Perspektive die Integrationsproblematik diskutieren, würden vielleicht Pauschalaussagen wie „die Migranten beuten den Sozialstaat aus“, „sie schotten sich ab und leben in ihren Parallelwelten“, weniger Anklang finden.
Denn die Integrationsprobleme entstehen nicht aufgrund irgendeiner ethnischen Gruppenzugehörigkeit, sondern es sind vielmals sozio-ökonomische Bedingungen, die der Ausgangspunkt von Integrationsproblemen sind. Lasst uns endlich anfangen über diese zu diskutieren!
Und lasst uns Menschen sehen.