Samy Charchira ist Dipl. Sozialpädagoge, Sachverständiger bei der Deutschen Islamkonferenz und Mitglied des Landesvorstandes des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes NRW. Seit Jahren setzt er sich für die Institutionalisierung islamischer Wohlfahrtspflege ein. Warum Wohlfahrtspflege auch für junge Musliminnen und Muslime wichtig ist, hat er dem JUMAner Yunus Güllü im Interview erzählt.

Yunus: Wohlfahrtspflege suggeriert für viele Menschen die Betreuung Bedürftiger im Alter, obwohl dieser Begriff ja u.a. auch die Jugendarbeit miteinschließt. Könnten Sie uns den Begriff Wohlfahrtspflege etwas näher bringen, damit wir im Verlauf des Interviews von einer gemeinsamen Definition ausgehen können?

Samy Charchira: Der Begriff ist tatsächlich etwas abstrakt. Er umfasst den Einsatz von Hebammen bei der Geburt sowie die weitere gesundheitliche Versorgung bis hin zu Kindergärten und Schulen, Jugendhilfe sowie Altenpflege. All diese sozialen Dienstleistungen werden in Deutschland klassischerweise als Wohlfahrtspflege bezeichnet. Man unterscheidet ferner auch noch die kommunale und die freie Wohlfahrtspflege. Die freie Wohlfahrtspflege beziffert sich mit den sechs großen Verbände Caritas, die Arbeiterwohlfahrt, das deutsche Rote Kreuz, die Diakonie, den Paritätischen Wohlfahrtsverband sowie die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland.

Wohlfahrtspflege ist ein historisch gewachsener Sammelbegriff für eine Reihe von professionellen Dienstleistungen, auf die jeder von uns von der Geburt bis zum Tod angewiesen ist.

Yunus: Sie fordern seit Jahren die Etablierung islamischer Wohlfahrtspflege. Inwiefern wäre dieses Signal ein Zeichen des Zugehens auf  die  Muslime in Deutschland?

Samy Charchira: Das wäre ein sehr starkes Signal. Einerseits wäre dies eine Botschaft für die Gleichberechtigung und Anerkennung der Muslime in Deutschland. Andererseits sind wir stark auf diese muslimische Wohlfahrt angewiesen sind. Es gibt eine Reihe von muslimischen Jugendlichen, die wir mit den klassischen Methoden der Jugendhilfe bisher nur unzureichend erreichen. Das hat manchmal ernsthafte Konsequenzen, z.B. im Bereich „Extremismusprävention“. Hier sehe ich eine große Notwendigkeit, da wir diese Angebote brauchen, um solche Jugendliche vor extremistischen Gruppierungen zu schützen. Aber auch der Bereich muslimische Jugendhilfe ist unterrepräsentiert, denn muslimische Gemeinden können mit Ihren bisherigen Ressourcen nicht immer die adäquaten Angebote leisten. Und auch für viele muslimische Eltern, die sich für Ihre Kinder eine werteorientierte Erziehung, die sich an den eigenen Lebenswirklichkeiten orientieren, sind selten Angebote vorhanden. So gibt es bis heute nur vereinzelt muslimische Kindergärten, obwohl in Deutschland eine Reihe von konfessionellen Kitas die Regel sind.

Wir haben eine christliche und jüdische Wohlfahrtspflege und es spricht nichts dagegen, dass sich auch eine muslimische Wohlfahrtspflege etabliert.

Yunus: Von der Institutionalisierung muslimischer Wohlfahrtspflege soll auch eine integrierende Funktion ausgehen. In welchem Maße könnte diese Integrationsfunktion erfüllt werden?

Samy Charchira: In den letzten 30 Jahren haben wir einen Anstieg der muslimischen Gemeinden hierzulande auf bis zu 4,5 Millionen Menschen verzeichnen können. Diese Menschen fehlen uns als Akteure in der freien Wohlfahrtspflege, denn zu einer erfolgreichen Integration gehört eben auch die sozial-gesellschaftliche Partizipation. Hinzu kommt, dass Muslime ein Recht auf Wahlfreiheit haben. Das heißt, dass die Bürger einen rechtlich festgeschriebenen Anspruch auf die sozialen Angebote der Wohlfahrtspflege haben, auf die sie angewiesen sind. Der dritte Aspekt wäre die soziale Frage. Wenn wir diese Frage anhand der Institutionalisierung muslimischer Wohlfahrtspflege adäquat lösen würden, dann würden wir unsere gewachsene gesellschaftliche Solidarität massiv fördern. Wir würden dadurch eine größere Vernetzung sowie verstärkte Kooperations- und Dialogbereitschaft unter den Akteuren und Betroffenen möglich machen. Das hat nicht nur eine erheblich integrierende Wirkung, sondern schmiedet unsere Gesellschaft für die Herausforderungen der Zukunft.

Integration hat auch etwas mit Teilhabe zu tun.

Yunus: Ein muslimischer Wohlfahrtsverband soll die Interessen der Muslime in Deutschland bündeln. Glauben Sie, dass dies aufgrund der enormen Vielfalt der muslimischen Community hierzulande mit teils konträren Ansichten überhaupt möglich wäre, in Form des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ einen Konsens zu erzielen?

Samy Charchira: Das ist auf jeden Fall möglich. Es gibt sogar einen großen gemeinsamen Nenner. Hierbei müssen wir nämlich zwischen einem Wohlfahrtsverband und einem Spitzenverband der Wohlfahrtspflege differenzieren. Es können viele muslimische Wohlfahrtsverbände parallel existieren, denken sie z.B. an einen möglichen Verband der muslimischen Notfallsanitäter oder selbiges für Erzieher. Es können also verschiedene Formen von muslimischer Interessenvertretung entstehen, die sich im Bereich der Wohlfahrtspflege aktiv beteiligen. Die Entscheidungsgewalt über die Gestaltung der Wohlfahrtspflege liegt schließlich in den Händen der Menschen. Die Interessenbündelung kann also z.B. konfessions- oder kulturübergreifend vonstattengehen. Es wäre im Interesse der hiesigen Muslime, wenn sie angemessene Vernetzungsformen auf höchster Ebene in Form eines Spitzenverbandes der Wohlfahrtspflege eingehen würden, um in den hochrangigen Gremien wie der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege mitvertreten zu sein. Dies wäre aber auch von enormer Bedeutung für den Bund und die Länder, die somit einen Ansprechpartner für jegliche Sozialangebote der Muslime hinzugewinnen würden. Das alles ist durchaus möglich. Es bedarf nur einem klaren Willen der muslimischen Gemeinden, um dies umzusetzen, da die innerislamischen Unterschiede innerhalb der Wohlfahrtspflege so gering sind, dass sie einer Interessenbündelung und -organisation kaum im Wege stehen könnten.

Yunus: Sie betonen, dass muslimische Wohlfahrt ebenfalls gewinnbringend für die Menschen in unserer Gesellschaft, unabhängig von ihrer konfessionellen Gesinnung, sein kann. Wo sehen Sie hier das Potenzial, gesellschaftsübergreifend einen Nutzen für die Menschen in Deutschland zu haben?

Samy Charchira: Der größte Mehrwert bei dieser Thematik wäre, dass sich tatsächlich mittel- und langfristig muslimisches Leben in Deutschland „normalisiert“. Wenn wir das als Gesellschaft schaffen, dann haben wir muslimisches Leben in Deutschland in einer Art und Weise normalisiert, dass Muslime keine Ausnahme mehr darstellen, sondern einen ganz natürlichen Teil unserer Gesellschaft bilden. Viele ihrer spezifischen Problemstellungen von heute könnte man so begegnen. So könnten beispielsweise Arbeitsmarktbarrieren für eine Reihe von gutausgebildeten muslimischen Fachkräften abgebaut werden. Muslime in Deutschland würden so auch den Sprung von reinen „Konsumenten“ zu „Akteruen“ der Wohlfahrtspflege schaffen. Ferner könnten so gesellschaftliche Konfliktpotenziale eingedämmt werden. Denn dadurch übernehmen Muslime verstärkt Verantwortung für sich selbst und für Ihre Mitmenschen und stehen damit für unsere Solidargemeinschaft ein.

Es muss „normal“ werden, wenn es neben einem katholischen, evangelischen oder jüdischen Kindergarten einen muslimischen Kindergarten gibt.

Yunus : Sie verlangen „eine groß angelegte und tiefgreifende Qualifizierungsoffensive“ von den muslimischen Gemeinden. Wie wäre diese konkret umzusetzen?

Samy Charchira: Muslimische Dachverbände machen schon seit ca. 50 Jahren Wohlfahrtspflege, bisher allerdings überwiegend ehrenamtlich und über Spenden. Die freie Wohlfahrtspflege schreibt aber ganz bestimmte Qualitätsstandards fest. Um diese Standards zu refinanzieren, gibt es eine Reihe von Möglichkeiten über die öffentliche Mitteln und Mitteln der Sozialversicherungskassen. Sie brauchen ausgebildetes Fachpersonal, welches hauptamtlich tätig ist und notwendige Konzepte entwickelt. Diesen Transformationsprozess müssen die einzelnen Gemeinden noch durchlaufen, um die gleichen Standards einzuhalten.

Die muslimischen Gemeinden in Deutschland müssen allerdings noch zu dem Punkt kommen, an dem sie verstärkt professionelle Strukturen schaffen und Sachkomplexe professionell bearbeiten.

Yunus: Um ein wenig den aktuellen politischen Diskurs miteinzubeziehen: Die Debatten über „den Islam“ in Deutschland, den es in dieser Form ja gar nicht gibt, scheinen immer emotionaler zu werden und wirken polarisierend. Inwieweit wäre in diesem Zusammenhang der Versuch, muslimische Wohlfahrtspflege zu institutionalisieren, Wasser auf die Mühlen der sog. „Neuen Rechten“?

Samy Charchira: Wir leben in einem Rechtsstaat. Islamische Wohlfahrtspflege ist kein fakultatives Angebot, sondern ein Rechtsanspruch. Solange wir in einem Rechtsstaat leben, und das ist ja Gott sei Dank der Fall, haben Muslime Anspruch darauf, die Lebensrealitäten in Deutschland mitzugestalten, sodass ihre eigenen Bedürfnisse berücksichtigt werden. Mir ist völlig klar, dass das rechtspopulistische Gruppen nicht toll finden.

Ich habe jedoch die Hoffnung, dass wir über Aktionen und Maßnahmen zu mehr Begegnung und Dialog in unsere Gesellschaft kommen werden.

Denn der beste Weg, um  Ressentiments und Vorurteile abzubauen, bleibt die Begegnung mit den Menschen. Und auch das wäre ein weiterer Mehrwert von islamischer Wohlfahrtpflege.