Der Anschlag im kanadischen Québec hat viele Muslime in Angst, Trauer aber auch in Wut versetzt.  JUMA-Teilnehmer*innen haben ihre Gedanken und Gefühle zu dem Anschlag in Worte gefasst.

Von Yunus

„Der Anschlag auf Muslime in Kanada macht mich wieder einmal sehr traurig. Aber umso mehr macht er mich wütend.

Als ich mich über die ntv-App über die letzten Entwicklungen in Kanada informieren möchte, dauert es schon ziemlich lange, bis man über den Po von Kendall Jenner und den Transferticker zum letzten Tag der Fußball-Wintertransferperiode letzlich nach einigem Scrollen im Politik-Ressort etwas über den Anschlag zu lesen findet.

Doch was sagt das über uns aus? Was sagt das über unser Mediennutzungsverhalten aus? Was sagt das über unsere Gedenkkultur aus? Wenn der Po von Kendall Jenner mehr Klicks generiert als ein Terroranschlag auf Muslime, dann ist das erbärmlich. Nein, es ist viel mehr als nur das. Es ist ein Armutszeugnis für die Menschheit.

Wo bleibt der ganze Aufschrei, das laute Entsetzen, die „inszenierte“ Trauer, das entschiedene Verurteilen dieses Ereignisses?

Der einzige Politiker, der die richtigen Worte findet, ist der kanadische Premierminister, Justin Trudeau. Er spricht von einem „terroristischen Anschlag auf Muslime“. Ihm nimmt man ab, das er es ernst meint und hart getroffen ist, weil er im nächsten Satz die Vielfalt und Migrationskultur seines Landes lobt. Doch die Politiker auf unserem Kontinent scheinen den „Vorfall“ (so würden sie ihn wahrscheinlich bezeichnen) schon längst abgehakt zu haben. Die zentrale Frage lautet daher: Sind sechs erschossene und 19 zum Teil schwerverletzte Muslime zu wenig, um Eilmeldungen zu schalten, um bei jeder Tagesschau die Ermittlungen vor Ort zu rekonstruieren und einen permanenten „Live-Ticker“ zur Verfügung zu stellen? Hätten es mindestens 30 Tote sein müssen? Anscheinend schon. Oder liegt es hier an etwas anderem?

Nehmen wir einfach mal theoretisch das umgekehrte Szenario. Ein „Islamist“ betritt eine Kirche und schießt dort wahllos um sich und tötet somit sechs Menschen. Welch eine Symbolik! Wie töricht! Ein Angriff von einem „Barbaren“ auf unser „christliches Abendland“. Jeder mag sich selbst ausmalen, wie verheerend dies wieder einmal für uns Muslime wäre und welch symbolische Auswirkungen das gehabt hätte.

Deswegen stören mich umso mehr die „doppelten Standards“, mit denen wir hier im „Westen“ operieren. Muslime scheinen Menschen zweiter Klasse zu sein, die nicht die selbe Solidarität zugesprochen bekommen wie Anschlagsopfer anderswo auf der Welt. Dies trägt dazu bei, dass irgendwelche Verschwörungstheorien vom „Kampf des Westens“ gegen „den Islam“ in der muslimischen Welt Zulauf erhalten. Dazu tragen wir mit unserer Gedenkkultur und unserer Doppelmoral bei. Auch Journalisten und Journalistinnen müssen über ihre berufsethischen Standpunkte reflektieren und die Nachrichtenfaktoren, nach denen sie berichten, sensibilisieren und Themen auf die Agenda setzen, überdenken.

Ich bin mir sicher, dass viele Menschen von diesem Terroranschlag noch nicht einmal etwas mitbekommen haben. Er geht im Medienrummel um die Nominierung von Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidat und das Einreiseverbot gegen Staatsbürger bestimmter muslimisch geprägter Länder in den USA unter.

Es ist wie am 19.12.2016. An den Anschlag auf eine Züricher Moschee und den erschossenen russischen Botschafter in der Türkei wird sich kaum einer noch erinnern. Dafür können wir den Namen „Anis Amri“ mittlerweile herunterrattern.

Es wird höchste Zeit, dass wir Muslime eigeninitiativ handeln. Wenn schon die Berichterstattung höchstens mangelhaft ist und die Mehrheitsgesellschaft von sich aus keinen Grund sieht, etwas zu tun, müssen wir das Zepter in die eigene Hand nehmen. Die hiesigen Muslime müssen ein deutliches und starkes Zeichen setzen, wie sie es schon nach dem Terroranschlag in Berlin getan haben. Dieses Mal müssen wir aber klare Kante zeigen gegen rechtsextrem gesinnten Terror. Wir müssen uns solidarisch zeigen gegenüber den Toten und Angehörigen in Quebec. Dafür braucht es eine gemeindeübergreifende, die „größten“ Gemeinden in Deutschland inkludierende Mahnwache.

Es tut mir leid, dass ich an dieser Stelle viel Gesellschafts- und Medienkritik geübt habe und keine Trauer habe zeigen können. Doch die Wut und das Entsetzen waren diesmal einfach zu stark.“